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Helga Dieckmann

Behinderung von Forschung und Wissenschaft - Leukämieerkrankungen in der Umgebung von Geesthacht

Auf der nördlichen, schleswig-holsteinischen Elbseite liegt in Geesthacht ein wichtiger Nuklearstandort: Die GKSS (Gesellschaft für Kernenergietechnik in Schiffbau und Schiffahrt) wurde mit zwei Forschungsreaktoren und sog. heißen Labors für Forschungsarbeiten nach dem Krieg unter Mitwirkung von Wissenschaftlern aufgebaut, die bereits während der Nazizeit an entscheidender Stelle an nuklearer Forschung und Entwicklung der Atombombe beteiligt waren. Die Entwicklung wurde maßgeblich von dem damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß gefördert. Seit den 60er Jahren wurde dann der Bau eines Siedewasserreaktors (Kernkraftwerk Krümmel, KKK) in unmittelbarer Nachbarschaft geplant. Nach erheblichen Schwierigkeiten in der Bauphase des seinerzeit weltgrößten Siedewasserreaktors ging der Meiler 1983 in Betrieb.

Seit Anfang der neunziger Jahre sorgte eine extreme Serie von kindlichen Leukämieerkrankungen am vis a vis gelegenen, niedersächsischen Elbufer für große Sorge in der Bevölkerung und erhebliches Medieninteresse. Wegen des sehr großen Radioaktivitätspotentials und der zeitlichen Chronologie (Betriebsbeginn 1983, Auslösezeiten für kindliche Leukämie etwa 3-5 Jahre) fokussierte sich das Interesse zunächst auf den Siedewasserreaktor. Einzelne Wissenschaftler nutzten Routinedaten der Radioaktivitätsüberwachung für eine Aufklärung der Ursachen der Leukämieerhöhung. Es zeigte sich, dass seit 1986 eine ungewöhnliche radioaktive Kontamination am Standort gemessen wurde. Dies betraf zum Beispiel Cäsiumgehalte der Luft, Radioaktivitätsgehalte des Regenwassers und Jahresdosen der Radioaktivität (Gammadosis) auf dem Dach des Maschinenhauses des Kernkraftwerks. Die Belastung der Region durch Tschernobyl-Fallout war vergleichsweise sehr gering, so dass dies als Ursache ausschied. Dennoch versuchte die schleswig-holsteinische Landesregierung, die Indizien für einen nuklearen Unfall von Anfang an mit unglaubwürdigen Argumenten abzustreiten:

- Sie behauptete, das Labor, das die Luftmessungen durchgeführt hat, sei durch Tschernobyl kontaminiert gewesen.

- Die Kontamination des Regenwassers sei durch eine Verstopfung des Auffangtrichters des Sammelgefäßes durch tschernobylbelastetes Laub zu erklären.

- Bei den Messungen auf dem Dach des Maschinenhauses sei es zu Verwechslungen der Messgeräte gekommen.

Ende der neunziger Jahre veröffentlichte die örtliche Bürgerinitiative Ergebnisse eigener Plutonium-Messungen, die erhöhte Gehalte in altem Dachbodenstaub zeigten. Dies führte zu einer beispiellosen Diffamierungskampagne gegen die beteiligte Wissenschaftlerin. In der Folge wurden die Ergebnisse in einem unabhängigen Labor bestätigt und von ihr in einer international angesehenen Fachzeitschrift publiziert (Health Physics). Hierdurch wurde eine externe Arbeitsgruppe atomfreundlicher Wissenschaftler mit jahrelanger Erfahrung im Kontext Plutonium-Messungen auf das Problem aufmerksam. Sie fanden eine Umweltkontamination mit spezifischem Kernbrennstoff (Spalt- und Fusionsstoffe), der auch im Bereich militärischer Forschung von großem Interesse ist.

Die Zusammenschau der Ergebnisse lässt keinerlei Zweifel, dass sich am 12.9.1986 ein schwerwiegender Unfall bei nuklearen Experimenten ereignet hat. Die schleswig-holsteinische Landesregierung interpretiert die hohen Radioaktivitäts-Meßwerte als Aufstau natürlicher Radioaktivität (Radon).

Die heutigen Ergebnisse lassen am ehesten auf eine Beteiligung der GKSS schließen. Möglicherweise war man 1986 davon ausgegangen, dass relevante gesundheitliche Auswirkungen des Unfalls nicht zu erwarten seien und hat - möglicherweise wegen möglicher militärischer Hintergründe und schwieriger messtechnischer Erfassung der Kontamination - die Bevölkerung über den Vorgang nicht aufgeklärt. Spätestens nachdem Anfang der neunziger Jahre die dramatische Leukämieserie einsetzte, hätte die neue Landesregierung die Bevölkerung über die Hintergründe des Unfalls und mögliche Schutzmassnahmen insbesondere für Kinder informieren müssen. Dies ist nicht geschehen. Nun müssen wir feststellen, das weiterhin Jahr für Jahr Kinder an Leukämie erkranken und die signifikante Leukämieerhöhung auch nach Aussage des deutschen Kinderkrebsregisters anhält. Trotz des Kommentars des Kinderkrebsregisters an das niedersächsische Sozialministerium (6.10.2003), es sei "sicherlich erschreckend, dass immer wieder ein weiterer Erkrankungsfall auftritt..." und der Empfehlung "die Region daher auf jeden Fall weiterhin sorgfältig zu beobachten", sind bisher konkrete Maßnahmen der Prävention unterblieben.